Thomas Ruhl

Thomas wuchs in einem kleinen Dorf im Vogelsberg auf und erlebte es als kleinsteilig, bürgerlich und moralisch eng, sodass es seinem Lebensgefühl, das sich eigentlich erst entwickeln wollte, überhaupt nicht gerecht wurde. Er fühlte sich „klein gehalten“. Es war, als sollten seine Flügel gestutzt werden. Seine Mutter hatte den Hühnern immer die Flügel gestutzt, damit sie nicht über den Gartenzaun zum Nachbarn flogen. Genauso fühlte er sich – im Grunde seines Herzens und in seinem Lebensgefühl. Er fühlte sich gestutzt, beschnitten, als ob er keine Möglichkeiten haben dürfte oder haben sollte.


THOMAS: „Die emotionale Last, die er durch seine Kriegserlebnisse in allerjüngsten Jahren, mit 18 bis 20, erfahren hat, wurde einfach in die nächste Generation, zu mir, rübergeschoben, ohne dass er das gewollt hätte. Das ist einfach faktisch passiert. Ich konnte nicht sagen, dass ich das als etwas Fremdes empfunden habe. Ich war einfach so, nur die anderen wussten, dass da etwas passiert ist zwischen meinem Vater und mir, was eigentlich nicht hätte passieren sollen.

Deshalb konnte ich in einem unglaublichen Maße gehänselt werden. Wenn man mir zum Beispiel „Nico“ gesagt hat, bin ich völlig explodiert. Und sie haben es immer wieder gesagt, sogar der Lehrer Fächer. Dabei war ich doch ich und nicht mein Vater. Damals habe ich nicht verstanden, dass ich nicht mit meinem Vater verwechselt werden wollte. Ich konnte nicht greifen, warum das so ist und warum ich mich darüber so geärgert habe.

Das hat mir letztlich die Realschule eingebracht; ich wäre sonst in meinem Dorf in der Volksschule allein geblieben. Es hat mich bildungstechnisch weitergebracht, aber mir war das alles unerklärlich.“
THOMAS: „Ich konnte zeigen, dass ich einen Text fehlerfrei lesen kann, mit Betonung. Ich glaube, das war damals wichtig. Aber am Altar zu stehen, das ist, als würde man auf einer Bühne stehen. Das sage ich jetzt im Rückblick. Ich stand auf einer Bühne, und alle mussten mich sehen.

Das ist eigentlich auch im Nachhinein für mich so etwas wie ein Selbstheilungsprozess gewesen, dass ich mich in Situationen gebracht habe, in denen ich persönlich gesehen werden musste. Ich hatte als Kind und Jugendlicher, vor allem als Kind, nicht das Gefühl, dass ich gesehen werde – jedenfalls nicht von meinen Eltern oder meiner Mutter.“

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