Renzension / Darmstädter Echo März 2017 // Von Stefan Benz

INTERVIEW-PROJEKT Rainer Lind macht mit seinen Videos die Galerie Kunstpunkt zum Schaufenster der Stadt

DARMSTADT – Rund 430 Video-Interviews hat der Künstler und Kunstlehrer Rainer Lind geführt, sie füllen 40 Festplatten – Stimmen einer Stadt, darunter viele ehemalige Schüler des Brecht-Gymnasiums. Über die Jahre ist Material zusammengekommen, das für ein Gesellschaftspanorama taugen würde. Von Freitag, 21. April, bis Ende des Monats öffnet Lind in der Galerie Kunstpunkt wieder ein Fenster in diese Erinnerungswelt. Der kleine Raum mit dem großen Schaufenster zur Kaupstraße hin wird für ein paar Tage zum Spiegel der Stadt. Dass gegenüber die kultige Kneipe „Pillhuhn“ liegt, die bevölkert ist von Originalen aus dem Martinsviertel, macht für Lind den besonderen Geist des Ortes aus.

Foto. Andreas Kelm

„Vom urbanen in den virtuellen Raum“

Drinnen im Kunstpunkt laufen als Projektion Interviews mit Fotografen und Theatermachern, einem Musiker und einem Juristen, einer Lehrerin und einem Software-Entwickler. Der Ton wird leise über den Rahmen des Fensters übertragen. Dass sich jemand stundenlang davor stellt und zuhört, ist eher nicht zu erwarten. Aber per QR-Code können sich Passanten daheim über Linds Homepage www.rainer-lind.de in sein Archiv der Menschen und Geschichten vertiefen. „Das geht vom urbanen in den virtuellen Raum, kriegt eine andere Dimension.

Ausstellung im Kunstpunkt Darmstadt

 Ich kann alles sehen, muss aber nicht“, sagt der neugierige Menschenfreund, der weiß, dass seine Filme von zwölf Prozent der Besucher auch bis zum Ende geschaut wurden. „Die Leute vertragen Länge.“ Es ist eine Freude für Lind, dem viele Filmexperten erklärt hatten, seine Arbeiten seien gut, aber zu lang. Er hat ja gar nicht den journalistischen Ehrgeiz, ein Porträt besonders pointiert zu präsentieren. Und es besitzt auch nicht jeder Gesprächspartner so ein schillerndes Sendungsbewusstsein wie der Windsurfer und Weltenbummler Carlo Drechsel, der 2006 in Darmstadt Abi machte und nun in der aktuellen Video-Serie darüber schimpft, dass sich an der Schule keiner für Träume, Visionen und Ideen junger Leute interessieren oder gar begeistern würde.

Andreas Kelm, Pessefotograf
Stefan Benz, Journalist

Rohmaterial für ein Gesellschaftspanorama

Die Leute mit den krummen Wegen, die gescheitert sind und sich neu erfunden haben, erregen die besondere Aufmerksamkeit von Lind, der in Darmstadt aufwuchs, hier studierte, an der Brecht-Schule Kunst vermittelt, aber in Marburg als Dozent für Webdesign arbeitet und am Vogelsberg wohnt. Sein eigener Lebenslauf war eben auch nicht geradlinig. In seiner Schulzeit haben die Lehrer auch nicht zugehört. Jetzt aber hört er zu – und findet Zuschauer für seine Videos. Das sei viel befriedigender als seine Zeichnungen und Malerei, bei denen sich das Publikum oft schwertue. Und obendrein sei seine Video-Arbeit, anders als ein Bild, nie abgeschlossen.

Kunst sei so ein Video obendrein zunächst ebenso wenig wie Dokumentation, sondern viel mehr Rohmaterial. Jedes Interview ist wie ein Mosaikstein für ein Panorama. Oder ein Figurenfundus für einen Gesellschaftsroman, der noch geschrieben werden will. „Meine Arbeit hat so einen Aufforderungscharakter.“ All die Gedanken, die in seine Videos fließen, sie ließen sich ja in einen literarischen oder dramatischen Gedankenstrom umleiten. Vielleicht kommt ja eines Tages ein kongenialer Künstler auf Rainer Lind zu, der das Kaleidoskop der sprechenden Köpfe kompiliert, kuratiert, komponiert. Bis dahin muss man sich eben durchklicken.

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