Peter Euler, Professor für Allgemeine Pädagogik

Wer heute gesellschaftliche Entwicklungen, zentral die globalen sozial-ökologischen Zerstörungen und die überdeutlichen Phänomene der Krise der Demokratie angemessen beurteilen will, kommt nicht umhin, hierin die Auswirkungen einer alle Teilbereiche der Gesellschaft durchdringenden Kapitalisierung zu erkennen. Die Erosion von Bildung und Demokratie sind nicht durch Teilreformen, sollten sie denn überhaupt unternommen werden, zu beheben, sondern nur, wenn deren Treiber, die selbstzerstörerisch gewordene Ökonomie, gebremst und umgewendet wird.

Entscheidend dabei ist grundsätzlich die Vergegenwärtigung, der widersprüchlichen Grundstruktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (seit der französischen Revolution in der Gestalt von „Citoyen“ und „Bourgeois“), die seit ihrem historischen Aufstieg, über ihre revolutionäre Durchsetzung bis zur Etablierung als „bürgerliche Herrschaftsgesellschaft“ (Gernot Koneffke) unterschiedliche Formen angenommen hat. Die Epoche seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird gemeinhin als „Neoliberalismus“ bezeichnet.

Sie ist gekennzeichnet durch die Überwindung der Verwertungsschwierigkeiten von Kapital seit den 70er Jahren, die in Gestalt gesättigter Märkte in den Zentren westlicher Gesellschaften offen ausbrachen. Deren Überwindung durch „äußere“ und „innere Landnahme“ (Klaus Dörre) mündet mit dem „finanzialisierten Kapitalismus“ (Nancy Fraser) in dessen gegenwärtige herrschende Formation, in der die Sphäre des Ökonomischen in alle anderen gesellschaftlichen Bereichen, deren Eigenlogik zerstörend, eindringt. Der Kapitalismus wird zum „Allesfresser“ der „seine eignen Grundlagen verschlingt“ (Nancy Fraser).

Peter Euler

 

Die landläufig „Neoliberalismus“ genannte Epoche des Kapitalismus ist als Antwort zu verstehen auf das Kernproblem des Kapitals, nämlich die Suche nach Verwertungsmöglichkeiten, angesichts gesättigter Märkte in den Zentren des Kapitalismus.

Klaus Dürre spricht daher angesichts des eher verharmlosenden Begriffs der „Globalisierung“ von äußerer und innerer „Landnahme“, also der Gewinnung, Eroberung weiterer Bereiche der Kapitalisierung; eben auch auf bislang von ihr traditionell ausgenommenen Dienstleistungsbereichen.

In diesem Prozess gewinnt die Finanzialisierung mächtig an Bedeutung. Dazu gehört u.a. die Abschaffung des Bretton-Woods-Systems (also der Kapitalverkehrskontrollen) und im Zuge weiterer Liberalisierung, die Machtzuwächse internationaler Finanzinstitutionen (wie die Weltbank und IWF). Die Politik hat eigene Lenkungsmittel aus der Hand gegeben und die „Marktkräfte von politischer Regulierung“ (Fraser) befreit.

Damit ändert sich die Vorstellung von staatlichem politischen Handeln, das u.a. in der Formel vom „Wohlfahrtsstatt zum Wettbewerbsstaat“ zum Ausdruck kommt.
In diesem Prozess erfährt auch, international über die OECD organisiert, der Bildungsbereich eine entscheidende Verschärfung seiner affirmativen Funktion.
Der Neoliberalismus (Reaganomics, Thatcherismus) entwertet und entmachtet die klassische Sphäre der Politik gegenüber der Macht des international organisierten Kapitals. Die „500 mächtigsten transkontinentalen kapitalistischen Privatgesellschaften der Welt“ kontrollieren (die Zahl stammt von 2005) „52.8 % des Weltsozialprodukts“ (Ziegler).

Der Neoliberalismus unterwirft, neben anderen sozialen Dienstleistungen auch die Bildung seinen asozialen Prinzipien. Die Schule sollte nicht mehr eine „Werkstatt der Menschlichkeit“ (Johann Amos Comenius) sein. Nicht mehr Mündigkeit und Emanzipation sind die Ziele der neoliberalen Bildungsreform, sondern Wettbewerbsorientierung. Und nicht zufällig organisiert die OECD (die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) die internationale Bildungsreform: „‘Seit ca. zwei Jahrzehnten setzen die ‚PISA-Studien … eine Maschine in Gang‘ (Casale/Oswald, 6) die das gesamte Bildungssystem … einer neoliberalen Doktrin unterwirft, die ein genuin pädagogisches Problemverständnis für wissenschaftlich überholt erklärt und damit auflöst bzw. liquidiert.“ (Euler 2020) Diese Reform „verändert grundsätzlich, was Bildung bedeutet, was Pädagogik und die Bedeutung der Lehrperson bedeuten“. Die „Aufgaben der Bildung“, der „Sinn der Bildung werden ausgeblendet“ (Ball 2018 48f.).

Neben der neoliberalen Verschärfung des Arm-Reich-Gefälles, der Verschlechterung der Reproduktionssituation von immer mehr Menschen auch in den Zentren des Kapitalismus trägt auch die Erosion von Bildung zur Erosion der Demokratie bei.


*Namenserläuterungen bzw. Literatur zu Video 1

Christoph Scherrer (2010): In der Krise wächst die Macht des Finanzkapitals.
Polis Heft 1 / 2010, S.12-15.

Klaus Dörre (2010). Neue Landnahme? Der Kapitalismus in der ökologisch-ökonomischen Doppelkrise. Aus: Vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 80-91.

Stephan Kaufmann / Ingo Stützle (2014): Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre.

Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ – Einführung, Debatte, Kritik. Berlin: Bertz + Fischer Verlag,

Immanuel Wallerstein (1930-2019) Der Autor umfangreicher Werke über Das moderne Weltsystem.

NGO Global Witness: 227 Umweltaktivisten wurden im Jahr 2020 ermordet – mehr als je zuvor.
In: Spiegel 13.09.2021.

Landlosenbewegung portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, häufig kurz Bewegung der Landlosen (Movimento dos Sem Terra), abgekürzt MST.

François Noël Babeuf (1760-1797).

Ralf Dahrendorf (1929-2009): Die Forderung „Bildung als Bürgerrecht“ findet sich in seinem
„Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik“ das im November 1965 an als sechsteilige Essay-Serie in der ZEIT publiziert wurde und dann 1966 in Buchform erschien.

Gernot Koneffke (1927-2008) war von 1972 bis zu seinem Tode Professor an der Technischen Universität Darmstadt und zählt mit Heinz-Joachim Heydorn und Hans-Jochen Gamm zu den Hauptvertretern der Kritischen Bildungstheorie und Mitbegründer der materialistischen Pädagogik.
Gernot Koneffke, (1994): Pädagogik im Übergang zur Herrschaftsgesellschaft. Wetzlar.

Michael J. Sandel (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Die Soziologin Shalini Randeria über die Gefahren für die Demokratie, den Rückgang der Frauenrechte und die verengte Sicht der Europäer auf den Menschenrechtsbegriff.
Ein Interview mit ihr in der Frankfurter Rundschau vom 13.5.2023.
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/shalini-randeria-es-gibt-zurzeit-keine-globale-demokratie-bewegung-92274417.html

Nancy Fraser (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Suhrkamp, Berlin.

Jean Ziegler (2005): Das Imperium der Schande. München: Berthelsmann Verlag.

*Namenserläuterungen bzw. Literatur zu Video 2

Ingrid Lohmann (2001): After Neoliberalism. Können nationalstaatliche Bildungssysteme den ´freien Markt´ überleben? In: Ingrid Lohmann / Rainer Rilling (Hg.)(2002): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. Opladen, S. 89ff.

Stephen Ball (2018): Die Transformation von Bildung und Demokratie. In: Einspruch! 2. Auswirkungen der Schulreformen. Winterthur: Eigenverlag, S. 49–51.

Frank-Olaf Radtke (2015): Das Regime der Betriebswirte. Eine Zwischenbilanz der „neuen“ Steuerung“ im deutschen Bildungswesen. In: Andreas Gruschka und Luis Nabuco Lastoria (Hg): Zur Lage der Bildung – kritische Diagnosen aus Brasilien und Deutschland, Opladen, S. 109-130.

Peter Euler (2020): Dennoch: Pädagogik. Gesellschafts- und Selbstkritik als Bedingung einer in Bildung begründeten Pädagogik. In: Leseräume, Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung.
Hg. Von K. Vach u.a., Ausgabe 6 (2020): 20 Jahre PISA. Bildung und Literatur in Schule und Gesellschaft.

Heinz-Joachim Heydorn (1970/2004): Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. In: Ders.: Studienausgabe Bd. 3. Wetzlar: Büchse der Pandora.

Ludwig von Friedeburg (1989, 2002 Taschenbuch): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Gernot Koneffke (1969): Integration und Subversion. Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft. In Ders. (2018). H. Bierbaum & K. Herrmann (Hrsg) Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit, Bd. I., Schneider Verlag Hohengehren, S. 115-147.

Interview mit Wilhelm Heitmeyer: AfD-Höhenflug im Osten: „Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts“. Frankfurter Rundschau vom 5.7.2023.

Wolfgang Fritz Haug: Vom Bildungsbürgertum zur Funktionselite, Das Argument 54, Berlin 1969.

Soziologe Andreas Kemper über Chancenungleichheit: Wie Milieus in Deutschland zementiert werden. Deutschlandfunk 8. Januar 2022.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-andreas-kemper-klassismus-armut-100.html

Elisabeth Sattler (2006); Chancengleichheit. In: Agnieszka Dzierzbicka / Alfred Schirlbauer (Hrsg.): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien: Löcker,
S.59-6.7


VITA PETER EULER

Geb. 1953 in Frankfurt/M
Chemielaborant (1968-71)
Fachoberschule Chemie (1972)
Ingenieur für Chemische Technologie (1975)
Gewerbelehrer 1. Staatsexamen für Chemie und Deutsch (1975-1978)
Geburt des Sohnes Serjoscha Euler (1979)
Magister (Abschluß 1980) Studium der Fächer: Pädagogik, Philosophie, Literaturwissenschaft
Hochbegabtenstipendium von 1977 bis 1982 Friedrich-Ebert-Stiftung
Promotion (1989)
„Preis für hervorragende wissenschaftliche Leistungen“ (1989) von „der Vereinigung von Freunden der Technischen Hochschule zu Darmstadt e.V. Ernst-Ludwigs-Hochschulgesellschaft“ für meine Dissertation im Werte von 5.000 DM
Habilitation (1997)
Privatdozent am Institut für Pädagogik der TUD (1998)
Seit 2001 Professor für Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt der Pädagogik der Natur- und Umweltwissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt.
2016 „Athene Preis für Gute Lehre“ des Fachbereichs Humanwissenschaften, „für sein leidenschaftliches und vorbildliches Engagement sowie seine wertschätzende Haltung bei der Vermittlung von Inhalten als auch der Betreuung von Studierenden“.
2023 Verleihung des Wagenscheinpreises 2023.


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